„Aaaaaaahhhhhhhhhh, komm schnell!“, höre ich sie durchs ganze Haus brüllen. Was sage ich da? Die ganze Nachbarschaft hat es sicher gehört, denn es ist Sommer und alle Fenster sind offen. Ich sitze im Arbeitszimmer und arbeite. Home Office. Weil ich es kann. Weil ich heute einfach mal nicht in viel zu warmer Kleidung ins aufgeheizte Auto steigen wollte. Weil ich zu Hause mit offenem Hemd arbeiten wollte. Weil ich immer wieder vergesse, dass ich in ihrer Nähe sowieso keine Ruhe finde. „Maaaann, aaaaaaah, Hiiiiiiiiiiiiiilfeeeeee!“, dröhnt es jetzt. Moment mal, Hilfe? Sie wollte duschen, wobei könnte sie Hilfe brauchen?
Ich könnte aufspringen, aber ich kenne sie einfach auch zu gut. Sie und ihre melodramatischen Anwandlungen. Sie und ihren grenzenlosen Wahn. Es hat ja Gründe, weshalb sie nicht mehr meine Freundin ist. Was könnte sie also wollen? Sicher ist ihr das Shampoo ausgegangen. Ein kleines Brett ist meine Ablagefläche im Bad. Für all meine Besitztümer, deren Aufenthalt im Bad Sinn macht. Sie hingegen, hat alleine in der Dusche auf drei Etagen mehr als 16 Shampoos stehen – ich habe nachgezählt. Unser Bad sieht aus wie ein Drogeriemarkt – mit integrierter Parfümerie!
Alternativ könnte sie auch kein frisches Handtuch finden, weil sie alle immer einmal benutzt und dann auf den Boden wirft. Mit Straßenschuhen drüber läuft, wenn ihr beim Haus verlassen einfällt, dass sie doch noch zu wenig Parfumgestank an sich hat. Ihr bescheuerter Mösezahn sich stundenlang drauf rum wälzt. Oder … sie hat wieder eine dieser seltsamen Anwandlungen, die sie alle paar Monate hat. Das sind die Momente, in denen sie fest davon überzeugt ist, dass wir eine Freundschaft Plus führen sollten. Da will sie mir über den Bauch lecken, wenn ich im halboffenen Hemd irgendwo sitze, setzt sich einfach so auf mich, versucht mich festzuhalten und zu küssen und einmal hatte ich auch wirklich vergessen abzuschließen und dann stand sie einfach nackt im Bad, als ich am Duschen war. Ach und die Nummer mit den Dessous und der Pizza gab es auch!
„Mann, Hilfe! Ich brauch Hilfe! Ich brauch dringend ein Pflaster! Hilf mir! Halloooooooo!“ Ich schrecke aus meiner Denkerpose auf. Hat sie Pflaster gerufen? Dann ist vielleicht doch irgendwas passiert! Einen Moment lang mache ich mir Sorgen, springe gleichzeitig vom Schreibtisch auf. Pflaster habe ich immer auch im Arbeitszimmer – ich weiß nicht wieso. Reflexartig greife ich nach der Packung, die verschiedene Pflastergrößen enthält und renne zum Bad. Klopfe. „Komm rein“, höre ich sie wimmern. Ist sie nackt? Ich will nicht. Ich öffne die Tür einen Spalt und strecke ihr die Packung rein. „Mach die verdammte Tür auf und hilf mir!“, faucht sie mich an. Sie hat geweint, das höre ich an ihrer Stimme.
Ich atme tief ein und öffne die Tür. Suche sie auf Blickebene, finde sie aber auf dem Boden kauernd. Nackt ist sie zwar, hat aber das gigantische knallpinke Handtuch umgebunden. Ihre Haut ist noch voller kleiner Wassertropfen, nicht zuletzt weil ihre nassen Haare platt an ihr herunter hängen. Sie muss direkt aus der Dusche hier auf dem Boden zusammengesackt sein. Also gut, dann verarzte ich sie halt: „Blutest Du stark? Wie groß soll das Pflaster sein? Hast du dich beim Rasieren geschnitten? Alles ok?“ Sie wirft mir einen ihrer Todesblicke zu: „Gar nichts ist ok! Wieso bist du nicht früher gekommen? Ich hab mindestens 20-mal gerufen! Ich hätte hier sterben können, aber Hauptsache der Herr arbeitet!“ Ich seufze. „Kleines Pflaster! Keins in weiß!“, befiehlt sie und ich beginne zu kramen. „Ich hab‘ mir in den Fingernagel rasiert und wenn man da nicht gleich ein Pflaster drüber macht, bleibt man immer in den Haaren hängen, weil die sich einzeln unter die einrasierte Stelle schieben! Los, mach!“ Ich starre sie mit offenem Mund an, werfe ihr die Pflasterpackung entgegen, drehe mich um und gehe zurück an meinen Schreibtisch.